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Panorama: Abnahmefahrt mit der neuen E-Klasse - Freihändig über den Freeway

  • Benjamin Bessinger/SP-X
  • In NEUHEITEN
  • 27. November 2015, 10:44 Uhr

Staubige Wüstenpisten, heiße Drifts auf arktischem Eis und schnelle Kurven auf einsamen Alpenpässen - bei der Entwicklung der neuen E-Klasse hatten die Mercedes-Ingenieure interessante Aufgaben. Die spannendste aber bewältigt Chef-Ingenieur Michael Kelz sogar mit den Händen im Schoß.

Hat Michael Kelz den Kürzeren gezogen oder ist er einfach nur ein guter Chef. Während seine Kollegen sechs Monate vor der Markteinführung der neuen E-Klasse ihre Prototypen über die spannendsten Straßen der Welt prügeln, steckt der Chefingenieur der Baureihe W213 im Stau von Los Angeles und quält sich im Schritttempo über den Pico-Boulevard.  Von wegen Sommer, Strand und Sonnenschein! Die Mitarbeiter beim Hitzetest in Arizona schwärmen vom Sonnenbrand im November und im schwedischen Arjeplog freut sich die Mannschaft über den ersten Schnee und kommt so langsam in Weihnachtsstimmung. Doch Kelz riecht den Smog der Millionenmetropole und sieht nicht viel mehr als die Rücklichter seines Vordermanns. Und trotzdem hat er den vielleicht spannendsten Job.

Denn auf einer Langstreckenfahrt nach Las Vegas testet er den neuen Drive Pilot, mit dem die Schwaben die Grenzen der Assistenzsysteme im Auto mal wieder etwas weiter verschieben wollen. Kaum biegt Kelz endlich auf den Highway ein und das Navigationssystem erkennt die beiden baulich voneinander getrennten Fahrspuren, meldet sich die Elektronik einsatzbereit und der Chefingenieur muss nur noch den Tempomat aktivieren, bevor er sich entspannt zurücklehnen kann. Dass nimmt der Entwickler wörtlich, lässt die Lehne des neuen Komfortsitzes ein Stück weiter nach hinten surren, schaltet sich durch mehr Massageprogramme als in der S-Klasse, hält die Füße still und hat die Hände im Schoß. Denn seinen Job macht jetzt der Computer.

Mit Stereokamera und Radarsensoren tastet er den Bereich vor dem Fahrzeug ab, orientiert sich wahlweise an den Fahrbahnmarkierungen oder am Vordermann und hält den Prototypen unbeirrt auf seinem Kurs. In der Theorie arbeitet der Drive Pilot bei Geschwindigkeiten von 0 bis 210 km/h auf der Autobahn so zuverlässig, dass Kelz bei der Abnahmefahrt zwischen Los Angeles und Las Vegas die Hände oft Minutenlang im Schoss lassen kann - weit geschwungene Kurven, Baustellen ohne Fahrbahnmarkierungen und Geschwindigkeitsbegrenzungen inklusive. Selbst überholen kann die E-Klasse automatisch. Kelz muss nur einmal den Blinker antippen, dann wartet sein Prototyp auf eine freie Lücke, schert aus und zieht wie von selbst am Vordermann vorbei. Und sobald der Ingenieur zum zweiten Mal den Blinker setzt, kehrt die E-Klasse bei nächster Gelegenheit wieder auf ihre Spur zurück.

In der Praxis allerdings ist das so noch nicht ganz möglich. Oder besser: Nicht erlaubt. Denn die E-Klasse kann mehr, als der Gesetzgeber zulässt, und auch Kelz muss deshalb immer mal wieder zumindest pro forma kurz die Hände ans Lenkrad nehmen, damit nach einer längeren Warnphase nicht irgendwann eine Notbremsung erfolgt.

Doch je länger man ihm bei der freihändigen Fahrt über den Freeway zuschaut, desto größer wird die Lust, es selber auszuprobieren und der Stau auf dem Weg ins Büro verliert seinen Schrecken. Trotzdem kann man den Ingenieur verstehen, wenn es sich zwischendurch auch an den Kurven hinauf in die San Bernadino Mountains freut und den Drive Piloten mit einem Fingerzeug in die Pause schickt. Ein bisschen Benzin im Blut kann bei so viel Bits und Bytes schließlich nicht schaden. Und warum sollen nur die Kollegen in Arizona oder Arjeplog ihren Spaß haben?

Die Arbeit an der E-Klasse hat zwar schon vor vier Jahren und über zwölf Millionen Testkilometern begonnen und mittlerweile sind bereits über 1.000 Autos gebaut, erzählt der Chef-Ingenieur und spricht dabei so selbstverständlich auch mit den Händen, als stünde er für einen Vortrag auf der Bühne. Doch die Entwicklungen und die Entscheidungen bei Assistenzsystemen wie dem Drive Pilot sind so dynamisch, dass sich fast täglich wieder etwas ändert. Nicht umsonst klemmen die Entwickler bei jedem zweiten Zwischenstopp ihren Laptop an die zehnmal schnellere Flexray-Leitung, die den bisherigen CAN-Bus ersetzt, und checken oder aktualisieren die Software:  ,,Erst vor drei Monaten haben wir zum Beispiel entschieden, in welchen Tempobereichen der Drive Pilot und der aktive Überholassistenz funktionieren sollen und wie lange die Elektronik bei einem Stillstand aktiv bleibt, so dass die E-Klasse von alleine wieder anfährt", erzählt Kelz. Und wenn man ihm so zuhört, dann sind auch diese Entscheidungen offenbar noch nicht in Stein gemeißelt. Erst recht, weil es für die aktuelle Auslegung bislang nur aus Deutschland und den USA eine Freigabe gibt. Gut möglich also, dass Kelz nicht nur seine Prototypen, sondern auch die ersten Serienfahrzeuge noch einmal ,,flashen" und mit der aktuellsten Software bespielen muss, bevor im April die erste Autos ausgeliefert werden.

Über diese Diskussionen ist es Abend geworden auf der Langstrecke nach Las Vegas. Die Sonne ist über der Wüste verglüht, am Horizont funkelt bereits das Lichtermeer über der Spielermetropole und nach acht Stunden automobiler Entspannung macht sich im Prototypen plötzlich eine ganz andere Art der Aufregung breit: Vorfreude. Weniger auf Weltpremiere in Detroit, den offiziellen Produktionsstart kurz nach dem Jahreswechsel oder die Markteinführung im April, sondern auf den Abend im Vergnügungsparadies.

Denn auch wenn der Drive Pilot in der neuen E-Klasse noch meilenweit vom autonomen Fahren entfernt, weil der Gesetzgeber der Technik noch lange nicht so viel zutraut wie Mercedes, ist dem Baureihen-Chef die Entspannung und Entlastung nach einem Tag hinter dem Steuer bei der Zieleinfahrt im Dämmerlicht deutlich anzumerken: Während die Kollegen aus den Begleitfahrzeugen sich nach der ganzen Gurkerei nur noch nach einer Dusche sehnen und nach einem Bett, ist Kelz voller Tatendrang. Die Nacht ist noch jung, der Strip schillert mit den neuen Pixelscheinwerfern der E-Klasse um die Wette und irgendwo aus einem iPod singt Elvis bereits die Hymne dieser Nacht: ,,Viva Las Vegas!"

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