Dschihadisten haben bei ihren Vormarsch im Norden Syriens fortgesetzt und kontrollieren nach Angaben von Aktivisten mittlerweile weite Teile der Millionenstadt Aleppo sowie den dortigen Flughafen. Auch in den benachbarten Provinzen rückten sie demnach vor.
Die Dschihadistengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und mit ihr verbündete Gruppierungen haben am Samstag nach Angaben von Aktivisten ihren Vormarsch im Norden Syriens fortgesetzt. Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte, brachten die Rebellen einen Großteil der Millionenstadt Aleppo sowie den dortigen Flughafen unter ihre Kontrolle. Auch in den benachbarten Provinzen Idlib und Hama rückten sie in strategisch bedeutsame Orte vor. Erstmals seit 2016 flog Russland den Aktivisten zufolge wieder Angriffe auf Aleppo.
Nachdem die syrische Armee sich von dem Flughafen am südöstlichen Rand von Aleppo "zurückgezogen" habe, hätten die Dschihadisten dort die Kontrolle übernommen, erklärte die in Großbritannien ansässige Beobachtungsstelle, die über ein Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien verfügt. Es ist demnach das erste Mal, dass die dschihadistischen Rebellen die Gewalt über eine derartige Anlage in dem Bürgerkriegsland haben.
Außerdem kontrollierten die Kämpfer mittlerweile "Dutzende" strategisch bedeutende Orte in den Provinzen Idlib und Hama, hieß es weiter. Bei ihrem Vormarsch dort seien sie auf "keinerlei Widerstand" gestoßen, erklärte die Beobachtungsstelle, deren Angaben sich nicht unabhängig überprüfen lassen.
In Aleppo stünden mittlerweile "Regierungszentren und Gefängnisse" unter der Kontrolle der Dschihadisten gab die Beobachtungsstelle an. Der Iran erklärte, "bewaffnete terroristische Gruppen" hätten die dortige Botschaft angegriffen, das Personal befände sich jedoch in Sicherheit.
Bilder der Nachrichtenagentur AFP zeigten, wie Dschihadisten und Rebellen durch die Straßen von Aleppo zogen, ihre Flaggen vor einer Polizeiwache aufstellten und ein Porträt des syrischen Machthabers Baschar al-Assad zerrissen.
Der regierungsnahe Radiosender Scham FM berichtete, die meisten von Aleppos zwei Millionen Einwohnern seien in ihren Häusern geblieben, die öffentlichen und privaten Einrichtungen seien fast alle geschlossen. Die syrische Armee bestätigte die Präsenz von regierungsfeindlichen Kämpfern in "großen Teilen" der Stadt und meldete dutzende Tote sowie zahlreiche Verletzte in ihren eigenen Reihen.
Die Verteidigungslinien der syrischen Armee seien "in einem unglaublichen Tempo zusammengebrochen, das alle überrascht hat", sagte die Expertin der International Crisis Group, Dareen Khalifa. Ihrer Einschätzung nach wurde die Offensive über Monate vorbereitet.
Die Dschihadistengruppe HTS, der syrische Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida, und ihre Verbündeten hatten am Mittwoch eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der syrischen Regierung gestartet. Bei den heftigsten Kämpfen seit 2020 wurden laut der Beobachtungsstelle bislang mehr als 320 Menschen getötet, darunter 44 Zivilisten.
Angesichts der sich zuspitzenden Lage griff das mit Assad verbündete Russland in den Konflikt ein. Laut der Beobachtungsstelle wurde Aleppo erstmals seit 2016 wieder von russischen Luftangriffen getroffen. Die russische Armee teilte nach Angaben russischer Medien mit, zur Unterstützung der Regierung in Damaskus "extremistische" Gruppen in Syrien bombardiert zu haben.
Bei einem vermutlich von Russland ausgeführten Luftangriff wurden der Beobachtungsstelle zufolge 16 Zivilisten getötet. Demnach zielte der Angriff am Samstagnachmittag auf "zivile Fahrzeuge" ab.
Nach Angaben aus Moskau telefonierte der russische Außenminister Sergej Lawrow mit seinen Kollegen im Iran und in der Türkei. In den Gesprächen habe Lawrow seine Besorgnis über die "gefährliche Eskalation" der Kämpfe in Syrien zum Ausdruck gebracht, teilte das Außenministerium mit.
Russland ist der wichtigste Unterstützer von Syriens Machthaber Baschar al-Assad, auch der Iran ist ein wichtiger Verbündeter. Dessen Außenminister Abbas Araghtschi kündigte für Sonntag einen Besuch in Damaskus an. Das französische Außenministerium forderte "alle Parteien auf, das humanitäre Völkerrecht zu achten und die Zivilbevölkerung zu schützen".
Der syrische Bürgerkrieg hatte 2011 begonnen, nachdem Assad Proteste gegen die Regierung mit Gewalt niederschlagen ließ. Eine halbe Million Menschen wurden getötet und Millionen weitere vertrieben.
Mit der Unterstützung ihrer Verbündeten Russland und dem Iran erlangte die syrische Regierung 2015 die Kontrolle über weite Teile des Landes zurück. Auch die Großstadt Aleppo eroberte Assad im Jahr 2016 mit Unterstützung der russischen Luftwaffe mittels massiver Bombenangriffe zurück.
Im Norden Syriens gilt seit 2020 ein von der Türkei und Russland vermittelter Waffenstillstand, der zwar immer wieder gebrochen wurde, aber die Region in den vergangenen Jahren weitgehend beruhigt hatte. Die Dschihadisten der HTS kontrollieren dort weite Teile der Region Idlib sowie Teile der Nachbarprovinzen Aleppo, Hama und Latakia.