Twinner erzeugt mithilfe hochauflösender Kameras und ausgefeilter Software einen äußerst detaillierten, Fingerabdruckgleichen digitalen Zwilling eines Autos. Das allein erlaubt schon spannende Einblicke und Erkenntnisse. Die Technik soll aber nicht weniger als den weltweiten Autohandel revolutionieren.
Das Gelände einer ehemaligen Panzer-Kaserne am Nordrand der Eifel. Hier warten tausende Pkw und Kleintransporter auf ihre Aufbereitung für den Weiterverkauf: Leasingrückläufer, Flottenfahrzeuge, andere Gebrauchtwagen. Rund 50 Fahrzeuge durchlaufen hier täglich beim Aufbereitungs-Dienstleister Hapitec ihren individuellen Verschönerungsprozess. Mit Hilfe des Twinners und mit im Innenraum installierten Sphärenkameras werden anschließend von jedem einzelnen Fahrzeug innerhalb von nur drei bis fünf Minuten standardisierte Datensets mit einem Umfang von etwa einem Gigabyte erstellt.
Das Fahrzeug wird dazu in den sogenannten Twinner Space, eine Art perfekt ausgeleuchtete Garage mit Drehteller gefahren, in der unter anderem Bodenscanner den Unterboden abtasten und die Reifen-Profiltiefe messen. Durch eine automatisierte FIN-Abfrage werden zeitgleich die Fahrzeugdaten inklusive Ausführungsvariante und alle Ausstattungsmerkmale geladen. Der Scanner liefert in 15 Grad-Schritten hochauflösende Bilder. Aus den Bildern aller Kameras - insgesamt mehrere tausend - wird eine 360-Grad-Ansicht von innen und außen sowie eine Übersicht zu möglichen Schäden und Besonderheiten des Fahrzeugs generiert.
Mit multispektralen Sensoren wird zudem beispielsweise das Alter des Lacks bestimmt, um Vorschäden aufzudecken oder Dellen und Kratzer zu identifizieren. Ein menschlicher Inspekteur, der das Messgerät bedient, vervollständigt den Bericht mit letzten manuellen Checks. Das komplette, umfangreiche Daten-Paket wird dem Kunden per Cloud-Widget zur Verfügung gestellt.
In nur wenigen Schritten ist das physische Auto auf diese Weise digitalisiert, kann somit innerhalb kürzester Zeit im Internet veröffentlicht und zum Kauf angeboten werden. Das zeitraubende und teure Anfertigen von Gutachten, manuellen Fotos, die händische Dateneingabe und Abweichungen in der Anzeigequalität gehören der Vergangenheit an. Der digitale Zwilling eines jeden Fahrzeugs wirkt dabei vollkommen real, der dazugehörige ausführliche Datensatz soll für größtmögliche Transparenz, Sicherheit und Vertrauen beim potenziellen Käufer sorgen.
"Immer mehr Gebrauchtwagen-Käufer fällen ihre Kaufentscheidung auf Grundlage dieser umfassenden Informationen allein online", weiß Mario Lingen, Head of Key Account Management bei Twinner. "In Zukunft wird das den weltweiten Automobilhandel nachhaltig verändern." Der Blick in die USA zeigt, was Lingen meint: Dort betreibt Carvana bereits seit 2013 den reinen Online-Verkauf von Gebrauchtwagen. Kundenvorteile: Die transparente Fahrzeugpräsentation, bei der Fahrzeug-Mängel aktiv aufgezeigt werden, die schnelle Kaufabwicklung - das Fahrzeug wird hier in der Regel innerhalb nur eines Tages nach Bestellung bis vor die Haustür geliefert. Zusätzlich genießt der Kunde ein umfangreiches Rückgaberecht. Diese Sicherheit, die er beim klassischen, stationären bislang Händler kaum findet, macht diese Kaufoption für viele attraktiv.
Im Gesamtjahr 2020 setzte Carvana 244.111 Fahrzeuge ab, erzielte dabei einen Umsatz von 5,587 Milliarden US-Dollar, was Carvana zum zweitgrößten Gebrauchtwagenhändler in den USA machte. Aktuell ist das Unternehmen mit über 47 Milliarden USD bewertet. Auch in Deutschland setzen immer mehr Unternehmen auf diese Vermarktungsform. Das Berliner Unternehmen Autohero, eine Tochter der Auto1 Group, bietet einen ähnlichen Service wie das US-Vorbild - inklusive 21 Tagen Geld-zurück-Garantie und einem Jahr Garantie. Erst kürzlich ist Auto1 mit einer Startbewertung von 7,6 Milliarden Euro an die Börse gegangen.
Twinner unterstützt jetzt CarNext bei deren unlängst gestarteten Pilotprojekt für virtuelle Autoinspektionen. Der europäische Online-Händler für gebrauchte Premium-Fahrzeuge nutzt die digitale Scantechnologie für alle seine in Deutschland angebotenen Fahrzeuge.
"Es wird nicht mehr lange dauern, bis jeder den fairen Marktwert eines Autos innerhalb von nur wenigen Minuten ermitteln kann, indem er durch einen unserer Scanner fährt. CarNext und Twinner teilen die Überzeugung, dass der Gebrauchtwagenmarkt reif für einen radikalen Wandel ist", sagt Silvan Cloud Rath, Geschäftsführer Twinner.
Das erkennen immer mehr Player im Gebrauchtwagen-Handel. Die Fahrzeug-Werke Lueg AG betreibt in Essen-Kreil einen Twinner. Eine zentrale Rolle spielt Twinner auch bei Volkswagen. In einem Pilotprojekt des Herstellers zur umfassenden Fahrzeugdigitalisierung wurden bereits zehntausende "Digital Twinns" von Fahrzeugen generiert. Auch mit Mosolf, einem der führenden Automobillogistiker in Europa, besteht eine enge Kooperation. An seinem Standort im badischen Kippenheim generiert das Unternehmen bereits "Zwillinge" für den digitalen Vertrieb der Rückläufer aus dem Mercedes-Mitarbeiterleasing.
Kein Wunder also, dass Twinner unlängst in seiner Serie-B-Finanzierungsrunde unter anderem zwei deutsche Investoren gewinnen konnte. Als Investor und strategischer Partner stieg zudem das japanische Industrie- und Automobilkonglomerat Sojitz Corporation, ein international führendes Unternehmen in den Bereichen Automobilmontage, Groß- und Einzelhandel, ein. Der Konzern will gemeinsam mit Twinner die Digitalisierung des japanischen Automobilmarktes beschleunigen.
Während der Finanzierungsrunde erreichte die Bedeutung des Online-Automobilhandels eine neue Dimension: Obwohl eine Präsenz-Beratung in den Autohäusern seit November 2020 nicht mehr möglich war, wechselten von Januar bis März 2021 rund 1,58 Millionen gebrauchte Pkw den Besitzer - nur 80.000 weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Besichtigungen fanden nahezu ausschließlich virtuell statt.
Christoph Reifenrath / mid