In den vergangenen Jahren ist das Thema Inklusion immer präsenter geworden. Deutschlands Konzerne und Mittelständler haben neben dem digitalen Wandel auch erste Fortschritte hin zu einer barrierefreien Arbeitswelt getätigt.
Doch ausgerechnet bei digitalen Anwendungen stoßen zahlreiche potenzielle Mitarbeitende immer noch auf zu viele Barrieren, zeigt Gastautorin und inklusive Verständigungsexpertin Nina Cisneros Arcos von Orelon auf.
Barrierefreiheit? Das sei primär ein Thema für kleine Bezugsgruppen, so ist hinter vorgehaltener Hand mitunter noch zu hören. Doch wer weiterhin so denkt, hat nicht nur die Zeichen der Zeitenwende nicht erkannt, sondern verkennt auch, um welch große Bevölkerungsgruppe es hier im Kern eigentlich geht. Etwa 7,8 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer anerkannten Schwerbehinderung. Eine bemerkenswert große Zahl von Menschen also, die nur mit Einschränkungen und unter bestimmten Bedingungen an Schulen oder Universitäten lernen, ihren Beruf in vollem Umfang ausüben können oder auch als Auftragsgebende vor besonderen Herausforderungen stehen.
Auch wenn wir von Einschränkungen bei der Verständigung sprechen, ist keinesfalls von ‚kleinen Bezugsgruppen‘ zu sprechen. Offiziellen Schätzungen zufolge leben aktuell etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland mit Sehbehinderungen, sowie 13,3 Millionen Menschen, die taub oder schwerhörig sind. Vor allem im Informationszeitalter wird es zur essenziellen Aufgabe, dass wir gemeinsam drauf achten, dass Benutzeroberflächen und Informationsstellen barrierefrei gestaltet sind. An die Lesbarkeit oder die Architektur einer Website zum Beispiel, aber auch an die Zugänglichkeit eines klassischen analogen Ladengeschäfts.
Digitale Hürden verhindern gesellschaftliche Teilhabe von MillionenÂ
Digitale Barrieren machen im Moment für Millionen Mitmenschen den einfachen Zugang zu Angeboten und Wissen im Privatleben oder Job schwer bis unmöglich – ein Unding in Zeiten von digitalen Revolutionen wie KIs, 5G oder dem Metaverse. Zu hohe Hürden verhindern die digitale Teilhabe, während die Digitalisierung von unserer Gesellschaft als zunehmend normal erachtet wird. Zahlreiche Behördengänge oder Bankgeschäfte funktionieren heute bereits nur noch online, Hauptversammlungen werden digital abgehalten, irgendwann vielleicht auch Wahlen zu Landtagen oder Bundestag.
Ob für ältere Menschen, für Sehbehinderte, für Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist: Für sie alle ist die Barrierefreiheit im digitalen Arbeitsleben, bei der Benutzung von Oberflächen und beim privaten Surfen im World Wide Web von maßgeblicher Relevanz. Nach aktuellen Studien der Aktion Mensch, die sich regelmäßig der Barrierefreiheit etwa von Onlineshops kritisch annimmt, ist Barrierefreiheit im Internet für zehn Prozent der Bevölkerung unerlässlich, für mindestens 30 Prozent notwendig und für 100 Prozent hilfreich.
Ab Mitte 2025 wird barrierefreie Auskunft zur Pflicht
Die Aktion Mensch, Stiftung Pfennigparade, BITVConsult und Google haben einen Test entwickelt, der die Barrierefreiheit der meistbesuchten Onlineshops überprüft. Der jüngste Bericht zeigt viel Erfreuliches, deckt jedoch auch manchen Schatten auf. Über diesen sollten die Unternehmen jedoch bereits bald im eigenen Interesse zügig handeln. Denn der Gesetzgeber macht Druck: Ab Ende Juni 2025 sind privatwirtschaftliche Anbieter zur Barrierefreiheit bei digitalen Produkten und Dienstleistungen gesetzlich verpflichtet.
Dann greifen hierzulande die Regeln des „Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die BarrierefreiheitsÂanforderungen für Produkte und Dienstleistungen“. Das „Barrierefreiheitsstärkungsgesetz“, kurz ‚BFSG‘, verfolgt das Ziel einer inklusiven Gesellschaft, „in der alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen – in Deutschland und Europa“. Doch ohne frühzeitige Aufklärung und Vorausplanung zur Umsetzung wird sich dieser Schritt als organisatorische und wirtschaftliche Herausforderung entpuppen.
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wird die Kommunikation revolutionieren
Das Gesetz markiert einen wichtigen und fundamentalen Einschnitt und verhilft spätestens dann Menschen mit Einschränkungen zu den ihnen längst zustehenden Rechten. Das Gesetzt gilt für alle Produkte, die nach dem 28. Juni 2025 in den Verkehr gebracht werden: Hardwaresysteme für Rechner, Selbstbedienungsterminals etwa in Supermärkten oder Banken, Automaten zum Kauf von ÖNPV-Tickets oder auch Check-in-Terminals an Flughäfen und Bahnhöfen. Darüber hinaus greift es für elektronische Lesegeräte, bei Webseiten und Anwendungen auf Smartphones. Unter dem Strich wird es alle Formen der Kommunikation radikal verändern, bei denen Unternehmen oder Verbände mit Privatpersonen, Mitarbeitenden oder Endverbraucher kommunizieren.
Weitsichtige Unternehmen verlassen sich allerdings nicht auf öffentliche Initiativen oder gar mögliche Sanktionen des Staates. Langfristig gedachte Unternehmen agieren unabhängig von gesetzlichen Auflagen, erkennen die Chancen in der Vielfalt in der Barrierefreiheit statt reiner Kosten oder Herausforderungen. Wer sich bereits heute aktiv für die Barrierefreiheit seiner Produkte, Dienstleistungen oder Webseiten stark macht, setzt ein gesellschaftlich fortschrittliches Ausrufezeichen und sichert sich zugleich einen Vorsprung im ökonomischen Wettbewerb mit der Konkurrenz.
Im Rahmen der fortlaufenden Digitalisierung in fast allen Bereichen unserer Wirtschaft und Privatlebens dürfen wir die Inklusion nicht auf der Strecke lassen. Dabei geht es nicht nur darum, Millionen neue Kundinnen und Kunden dank barrierefreier Angebote zu gewinnen. Wenn ein Unternehmen die Kriterien der Barrierefreiheit einhält, kann es einen zusätzlichen Kreis an Talenten rekrutieren und Menschen unabhängig von Behinderung einbeziehen. Damit sendet es auch wichtige Signale nach außen und nach innen.
Ãœber die Autorin:
Nina Cisneros Arcos ist Expertin für mehrsprachige und barrierefreie Veranstaltungskommunikation bei Orelon. Sie engagiert sich für Diversität und Inklusion und ist mit Organisationen wie dem VKD und dem Social Entrepreneurship Netzwerk verbunden.
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